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Lichtenauer Halbmarathon - Im Geschwindkeitsrausch von Pirna nach Dresden

Re­ges Trei­ben emp­fängt mich am frü­hen Mor­gen um kurz nach 6 Uhr im Spei­se­saal des Ho­tels. Zahl­rei­che Läu­fer neh­men ihr letz­tes Mahl vor dem be­vor­ste­hen­den Ober­el­be-Ma­ra­thon ein. In des­sen Rah­men wird ne­ben ei­nem 10km-Wett­be­werb der Lich­ten­au­er Halb­ma­ra­thon, der ge­nau auf Hälf­te der Stre­cke von Kö­nigs­stein nach Dres­den in Pir­na ge­star­tet wird, aus­ge­tra­gen.
Fin­ger­spit­zen­ge­fühl ist bei der Zu­sam­men­stel­lung mei­nes Früh­stückstel­lers ge­fragt. Ich ma­che ei­nen gro­ßen Bo­gen um Brat­kar­tof­feln und Würst­chen­the­ke. Ich be­gnü­ge mich mit drei Schei­ben Weiß­brot, Ho­nig, Mar­me­la­de und ei­ner Ba­na­ne. Dazu gibt es ei­nen Tee. Ich bin sehr an­ge­spannt und wür­de oh­ne­hin nicht viel run­ter­be­kom­men. Ich esse zur Be­ru­hi­gung und um den Ma­gen we­nigs­tens ein we­nig zu füh­len. Im Kopf gehe ich noch ein­mal die nächs­ten drei Stun­den bis zum Start­schuss durch. Es ist al­les ge­nau ge­plant. Man könn­te den­ken, dass bei mei­nem in­zwi­schen 14. Halb­ma­ra­thon schon eine ge­wis­se Rou­ti­ne auf­kommt. Dem ist aber de­fi­ni­tiv nicht so. Ich ver­su­che je­des Mal im­mer wie­der et­was zu op­ti­mie­ren. Selbst wenn ich am Tag vor­her noch re­la­tiv ent­spannt bin, las­tet am Renn­tag im­mer ein un­sicht­ba­rer Druck auf mir, der sich in sei­ner Aus­prä­gung von Ren­nen zu Ren­nen sehr stark un­ter­schei­det. Die­se Zeit­span­ne mag ich über­haupt nicht. Es gibt kein Zu­rück mehr. Trotz op­ti­ma­ler Vor­be­rei­tung ist die Un­ge­wiss­heit über den mög­li­chen Renn­ver­lauf im­mens. Im Ide­al­fall kann ich die­se An­span­nung ab dem Start­schuss dann in po­si­ti­ve En­er­gie um­wan­deln, die mich vor­an­treibt.

Der Wet­ter­be­richt hat recht be­hal­ten. Die Nacht über hat es stark ge­reg­net. Der Him­mel ist wol­ken­ver­han­gen. Es sind 5 Grad und es nie­selt. Be­din­gun­gen, mit de­nen ich gut klar kom­me, so­lan­ge sich kein rut­schi­ger Schmier­film auf der Stra­ße bil­det. Im Start­be­reich bin ich ei­ner der Ers­ten. Ich ma­che mich für das Ren­nen warm und stel­le mich nun auch ge­dank­lich auf ei­nen flot­ten Be­ginn ein. Mein Trai­ner gibt mir die letz­ten Hin­wei­se und be­glei­tet mich an die Start­li­nie. Ich bin froh, dass er auch da­bei ist. Er be­stärkt mich. 10 Mi­nu­ten spä­ter als ur­sprüng­lich er­war­tet geht es um 9:20 Uhr los. Mar­cel Bräu­ti­gam zieht so­fort von der Sei­te nach vor­ne. Ihm folgt Marc Schul­ze. Da­hin­ter rei­he ich mich ein. Mit ei­nem klei­nen Ab­stand geht Mar­tin Sched­ler ins Ren­nen. Die ers­ten 5 Ki­lo­me­ter be­stimmt Marc im Tri­kot des SCC Ber­lin das Tem­po. Ich habe ei­nen gu­ten Rhyth­mus ge­fun­den und kann dem an­ge­schla­ge­nen Tem­po gut fol­gen. Zu­sam­men mit Mar­cel vom Ver­ein des Renn­steig­laufs bil­den wir eine Drei­er-Grup­pe. Ich schaue das ers­te Mal auf die Uhr: 15:50 Mi­nu­ten sind seit dem Start ver­gan­gen. Das ist schnel­ler als es sich an­fühlt. Per­fekt. Nun geht auch Mar­cel Bräu­ti­gam im­mer wie­der mal an die Spit­zen­po­si­ti­on. Ich bin mir un­si­cher, weil ich als Ein­zi­ger von uns noch nie so ein ho­hes Tem­po län­ger als 10 Ki­lo­me­ter durch­ge­hal­ten habe. Auch wenn ich in den letz­ten Trai­nings­ein­hei­ten ein gu­tes Ge­fühl hat­te, bin ich mir nicht si­cher, was ich drauf habe. Die nächs­ten Ki­lo­me­ter­schil­der flie­gen nun an mir vor­bei. Wie im Flug ver­geht die Zeit. Das Tem­po ist kon­stant hoch. Das zeigt auch die Zwi­schen­zeit bei Ki­lo­me­ter 10: 31:50 Mi­nu­ten. Ich den­ke ein­fach nur: “So kann es von mir aus wei­ter­ge­hen.” Der Wunsch er­füllt sich aber nicht. We­nig spä­ter muss ich mich mit leich­tem Sei­ten­ste­chen ru­mär­gern. Ich ver­su­che ru­hig zu blei­ben, tief durch­zu­at­men und ver­än­de­re auch die Atem­fre­quenz. Kurz­zei­tig muss ich 10 Me­ter von den bei­den Läu­fern im schwar­zen Dress ab­rei­ßen las­sen. “Soll es das schon ge­we­sen sein? Nein!” 10 Se­kun­den spä­ter kle­be ich wie­der an den Fer­sen der bei­den. Lei­der neh­me ich das zu wort­wört­lich: Als ich die Re­gen­trop­fen von mei­nen Bril­len­glä­sern wi­sche — ich wer­de mei­nem Bril­len-Spon­sor Szi­ols bei Ge­le­gen­heit die Ent­wick­lung ei­nes Schei­ben­wi­schers na­he­le­gen -, kom­me ich aus dem Gleich­ge­wicht, ver­än­de­re aus­glei­chend mei­ne Schritt­län­ge und be­rüh­re da­bei die Schu­he von Marc. “Ver­dammt,” den­ke ich. Er flucht. Ich: “Sor­ry.” An ei­ner an­de­ren Stel­le pas­siert es noch­mal. Dies­mal habe ich eine Bo­den­wel­le zu spät ge­se­hen. Ich är­ge­re mich to­tal und hof­fe, dass es mir die Jungs nicht übel neh­men. Bei Ki­lo­me­ter 15 zeigt sich, dass wir mit wei­te­ren 16:20 Mi­nu­ten mi­ni­mal lang­sa­mer ge­wor­den sind. Wir sind nun 48:10 Mi­nu­ten un­ter­wegs. Das ist fix. Mei­ne Bei­ne sind noch gut da­bei. Ich bin jetzt wirk­lich im Ge­schwin­dig­keits­rausch. Bei Ki­lo­me­ter 17 bin ich mir si­cher, dass ich das Tem­po bis ins Ziel hal­ten kann. “Wie vie­le Re­ser­ven ha­ben wohl Marc und Mar­cel?” Ich schät­ze Marc nor­ma­ler­wei­se stär­ker als Mar­cel ein. Von hin­ten kann ich es aber nicht be­son­ders gut ab­schät­zen. Bei Ki­lo­me­ter 18 ver­schär­fe ich das Tem­po. Ich lie­ge nun in Füh­rung. Ich höre, dass mir je­mand ge­folgt ist. Ich kann aber nicht wahr­neh­men, ob noch bei­de dran­blei­ben konn­ten oder ob ei­ner ab­rei­ßen las­sen muss­te. Den dor­ti­gen Ki­lo­me­ter­ab­schnitt habe ich nach 3:08 Mi­nu­ten ab­ge­hakt. Jetzt sind es nur noch 2000 Me­ter. Ich pas­sie­re den Dres­de­ner Zwin­ger. Aber für Sight­see­ing habe ich jetzt kei­nen Sinn. Noch 1000 Me­ter. Nun müs­sen im­mer mehr 10-Ki­lo­me­ter-Läu­fer pas­siert wer­den, die zur sel­ben Zeit wie wir auf dem letz­ten Ab­schnitt ge­star­tet wa­ren. Ich schaue mich um, um die Lage zu che­cken. In dem sel­ben Mo­ment schiebt sich Mar­cel ne­ben mich und er­öff­net so­fort den End­spurt. Es blei­ben ca. 500 Me­ter bis zum Ziel im Sta­di­on. “Dran blei­ben, Niels”, trei­be ich mich sel­ber an. Dann kommt auch schon eine enge Kur­ve. ich habe Pro­ble­me, mir mei­nen Weg zu bah­nen. Nach ei­ner wei­tern Kur­ve fol­ge ich Mar­cel auf die Kunst­stoff­bahn. Jetzt auf der Ge­gen­ge­ra­den kann ich noch mal ei­nen Gang hoch­schal­ten. Aber be­vor ich Mar­cel noch­mal ge­fähr­lich wer­den kann, muss ich noch­mal wie ein Hase um meh­re­re Mit­läu­fer auf die Bahn drei aus­wei­chen. Mar­cel wählt den In­nen­be­reich. Nun habe ich kei­ne Chan­ce mehr auf den Sieg. Ich tre­te noch ein­mal an. Der Er­fur­ter hat jetzt aber al­les im Griff und ent­schei­det die­ses span­nen­de Fi­nish für sich. Ich er­bli­cke die Uhr. Ich sehe, dass ich un­ter 1:08 Stun­den blei­ben wer­de und rei­ße die Arme in Luft. “Das ist der Wahn­sinn! 1:07:57 Mi­nu­ten” Ich habe mei­ne Best­zeit um 3:02 Mi­nu­ten ge­stei­gert und da­mit eine neue Di­men­si­on er­reicht.

Nun kann ich auch wie­der Freund­schaft mit der Haupt­stadt Sach­sens schlie­ßen. 2008 war ich hier beim Halb­ma­ra­thon im Ok­to­ber ge­star­tet und hat­te, in der Hoff­nung auf eine Ver­bes­se­rung mei­ner da­ma­li­gen Best­zeit von 1:12:37 Stun­den, eine wah­re Bruch­lan­dung er­tra­gen müs­sen. Auf den letz­ten Ki­lo­me­tern ver­lor ich noch über 2 Mi­nu­ten und muss­te mit 1:14:47 Stun­den schmerz­haf­tes Lehr­geld be­zah­len. Spä­tes­tens heu­te bei der Sie­ger­eh­rung, als ich die schwe­re Sand­stein­tro­phäe in Emp­fang nahm, hat­te ich das Emp­fin­den, dass al­les sei­nen Sinn hat und sich mei­ne Ge­duld und mein Trai­nings­ei­fer nun end­lich aus­ge­zahlt hat. Nach mei­ner Best­zeit über 10 Ki­lo­me­ter konn­te ich jetzt schon auf An­hieb mein zwei­tes Sai­son­ziel er­rei­chen. Das drit­te Ziel war­tet nun im Herbst auf mich. Dann wer­de ich wie­der in Mün­chen bei den Deut­schen Ma­ra­thon-Meis­ter­schaf­ten star­ten. Für den heu­ti­gen Tag bin ich rund­um zu­frie­den. Auf dem Weg zu­rück zum Ho­tel ge­nie­ße ich mein wohl­ver­dien­tes Er­din­ger Al­ko­hol­frei. Ich bin über­wäl­tigt von der gro­ßen An­teil­nah­me im Vor­feld des Halb­ma­ra­thons, die mir sehr gro­ße Mo­ti­va­ti­on ge­ge­ben hat, und den zahl­rei­chen Glück­wün­schen zur neu­en Best­zeit. Ich gra­tu­lie­re Mar­cel Bräu­ti­gam zum heu­ti­gen Sieg und wün­sche ihm viel Er­folg beim Renn­steig­lauf. Wann mein nächs­ter Wett­kampf sein wird, ist noch of­fen. Aber ich kann jetzt schon be­reits wie­der füh­len, wie sich neue Span­nung auf­baut, um er­neut die­sen Ge­schwin­dig­keits­rausch zu er­le­ben.